Die Geschichte von Settela Steinbach, dem 9-jährigen Roma-Mädchen, dessen Gesicht durch ein ikonisches Foto weltbekannt wurde, gehört zu den ergreifendsten und zugleich am wenigsten verstandenen Kapiteln der europäischen Erinnerungskultur.
Über Jahrzehnte galt sie als anonymes jüdisches Kind, das aus einem Deportationszug blickte, doch die Wahrheit hinter diesem Foto offenbart ein viel tiefgründigeres Drama. Settela war ein Teil des fast vergessenen Genozids an den Rom*nja und Sinti, der im historischen Diskurs zu lange marginalisiert wurde.
Ihr Schicksal steht symbolisch für eine Kindheit, die von Angst, Ausgrenzung und systematischer Vernichtung bedroht war. Das berühmte Bild, das sie mit großen, fragenden Augen zeigt, wurde am 19. Mai 1944 in Westerbork aufgenommen. Jahrzehntelang wusste die Öffentlichkeit nicht, wer das Mädchen war.
Erst akribische Spurensuche von Forschenden in den 1990er Jahren brachte ihre Identität ans Licht. Diese späte Aufklärung machte deutlich, wie viele Geschichten der Rom*nja verlorengingen, bevor man begann, ihnen den verdienten Platz im historischen Gedächtnis zu geben.
Die Familie Steinbach gehörte zu einer niederländischen Roma-Gemeinschaft, deren Alltag bereits vor der Besatzung von Diskriminierung geprägt war. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden die Repressalien drastisch verstärkt. Rom*nja und Sinti galten als „unerwünscht“, ihre Bewegungsfreiheit wurde eingeschränkt, ihre Wohnwagen beschlagnahmt und viele Familien gewaltsam in Sammellager gebracht.
So geriet auch die junge Settela in die Maschinerie der Verfolgung, unfähig zu verstehen, welche Gefahr über ihr schwebte.
Besonders erschütternd ist, wie lange die Identität des Mädchens verwechselt wurde. Jahrzehntelang glaubte man, das ikonische Foto zeige ein jüdisches Kind — ein Irrtum, der erst korrigiert wurde, als der niederländische Journalist Aad Wagenaar tief in die Archive eintauchte.
Seine Recherchen deckten die Wahrheit auf: Das Mädchen war Romni, und ihr wirklicher Name lautete Anna Maria „Settela“ Steinbach. Diese späte Enthüllung gilt heute als Wendepunkt im öffentlichen Verständnis über die Rolle der Rom*nja im Holocaust.
Der Völkermord an den Rom*nja und Sinti, oft „Porajmos“ genannt, ist eines der am wenigsten bekannten Kapitel der Zeitgeschichte. Trotz schätzungsweise 500.000 ermordeter Menschen wurde er erst spät offiziell anerkannt. Settela steht im kollektiven Gedächtnis für die vielen Kinder, deren Schicksale nie dokumentiert wurden.
Ihre Geschichte fordert die Welt auf, den Porajmos nicht länger als Randnotiz zu betrachten, sondern als integralen Bestandteil der europäischen Erinnerungskultur.
Die historischen Untersuchungen zum Fall Settela brachten auch eine oft übersehene Wahrheit ans Licht: Zahlreiche Deportationsdokumente der niederländischen Rom*nja wurden über Jahrzehnte absichtlich oder fahrlässig falsch kategorisiert, was ihre Identifikation erschwerte. Die Archivierungspraxis jener Zeit ordnete viele Roma-Familien unter Sammelbegriffen ein, ohne Namen zu registrieren.
Erst moderne Forschung korrigierte diese Versäumnisse. Dieses „geheime“ Kapitel archivischer Vernachlässigung erklärt, warum Settela so lange als anonymes Opfer galt.
Die Enthüllung dieser archivischen Diskrepanzen zeigt, wie stark strukturelle Vorurteile zur Auslöschung von Erinnerung beitragen können. Historikerinnen und Historiker argumentieren heute, dass die fehlerhafte Dokumentation nicht nur ein administratives Versagen war, sondern auch Ausdruck gesellschaftlicher Gleichgültigkeit gegenüber den Rom*nja.
Der Fall Settela wurde dadurch zu einem Symbol für die Notwendigkeit, marginalisierte Stimmen sichtbar zu machen und historische Leerstellen konsequent aufzuarbeiten.
Ihr Foto wird oft als Augenblick der Stille beschrieben — ein Moment, in dem ein Kind, das die Tragweite seiner Situation nicht begreifen konnte, direkt in die Kamera blickte.
Doch hinter dieser Stille verbirgt sich eine laute Botschaft an die Welt: Migration, Ausgrenzung und ethnische Verfolgung prägen bis heute globale Gesellschaften. Settelas Gesicht erinnert daran, wie wichtig es ist, Minderheiten zu schützen, ihre Geschichten zu dokumentieren und ihnen in geschichtlichen Narrativen Raum zu geben.
In den Niederlanden hat die Aufarbeitung des Porajmos lange gedauert. Erst in den letzten Jahrzehnten entstanden Initiativen, die sich gezielt mit der Verfolgung der Rom*nja und Sinti beschäftigen. Gedenkstätten, Bildungsprogramme und Forschungsprojekte rücken nun Geschichten wie die von Settela in den Vordergrund.
Diese Bemühungen sollen verhindern, dass die Vergangenheit erneut in Vergessenheit gerät. Der Fall Steinbach zeigt exemplarisch, wie wichtig transparente Forschung für die historische Wahrheit ist.
Einen weiteren „geheimen“ Aspekt enthüllten Historiker erst vor wenigen Jahren: Die Filmaufnahmen, aus denen Settelas Foto stammt, wurden ursprünglich von einem Lagerinsassen für Propagandazwecke produziert. Erst später erkannte man, dass diese Bilder ein unbeabsichtigtes Zeugnis des Leids wurden.
Diese Erkenntnis verdeutlicht, dass historische Quellen manchmal erst durch neue Perspektiven ihren wahren Wert entfalten. Die Aufnahmen wurden damit zu einem unerschütterlichen Beweis der Verfolgung der Roma-Gemeinschaft.
Die Geschichte Settela Steinbachs ist nicht nur die Erzählung eines Kindes, sondern ein Mahnmal für Europa. Sie fordert, den Porajmos nicht zu relativieren, sondern in seiner Tragweite ernst zu nehmen. Ihr Foto erinnert daran, dass Erinnerungspolitik mehr ist als Daten und Archivmaterial — sie ist ein moralischer Auftrag.
Settela wurde zum Gesicht einer Wahrheit, die zu lange im Schatten lag, und ihre Geschichte lebt heute in Schulen, Gedenkstätten und wissenschaftlichen Arbeiten weiter.
Am Ende bleibt ein Vermächtnis, das stärker ist als jede Unterdrückung: die Verantwortung der Gegenwart. Settelas Blick zeigt uns, dass Erinnerung Mut verlangt — den Mut, hinzusehen, zu lernen und zu handeln.
Die Geschichte des Roma-Mädchens ist ein stiller, aber mächtiger Ruf an die Welt, die Vergangenheit ernst zu nehmen und Minderheiten zu schützen. Ihr Name, einst vergessen, ist heute ein Symbol für Aufklärung, Mitgefühl und die Verpflichtung, niemals wieder wegzusehen.